
Ein Pfarrer macht Kultur – und die Kirche voll
Zwischen Predigt und Pointe: Wortwitziger Henner Eurich mit Tiefgang
„Liebe Gemeinde…“ – es war die falsche Anrede am richtigen Ort. Denn was am Donnerstagabend in der Dreifaltigkeitskirche geschah, war kein Gottesdienst, sondern eine Sternstunde der Alsfelder Kulturtage. Pfarrer, Kabarettist und Oberhesse Henner Eurich stellte sein neues Programm „TrittbrettPfarrer“ vor – und über 350 Menschen drängten sich in die Bankreihen. „Wann war die Kirche zuletzt so voll?“, fragte Moderatorin Anja Kierblewski verschmitzt, noch bevor die letzten Besucher Platz gefunden hatten. „Höchstens an Weihnachten“, antwortete der Geistliche – und schon rollte die erste Lachwelle durchs Kirchenschiff.
Kierblewski, die den Abend im Namen des AKT-Vereins charmant eröffnete, setzte die Latte gleich hoch: „Manche teilen sich eine halbe Stelle – und man merkt es. Henner Eurich teilt sich eine halbe Pfarrstelle – und man merkt es überall.“ Treffender konnte man den Mann kaum vorstellen, der in Heidelbach, Schwabenrod und Leusel predigt – und zugleich Klavierakkorde in die Welt schickt. Ein musikalischer Theologe, Sprachjongleur und passionierter Wortverdreher in Personalunion. Ein Pfarrer, der die Orgel gegen das Klavier, die Kanzel gegen die Kabarettbühne, die Predigt gegen das Lied eintauscht.
Der gebürtige Stockhäuser, heute mit Familie in Heidelbach ansässig, lebt das Paradox: halber Pfarrer, ganzer Entertainer. Er komponiert Musicals, gründete Gospel-Haus-Gottesdienste, erschuf das Oberhessische KirchenKlavierKabarett – und schlägt nun ein neues Kapitel auf. „TrittbrettPfarrer“ klingt nach billiger Mitfahrgelegenheit, ist in Wirklichkeit aber eine pointierte Analyse der Gegenwart.
Denn Themen gibt es für Pfarrer genug. Eurich greift Klimakrise, Künstliche Intelligenz, Social Media, Genderfragen, demografischen Wandel und den Werteverlust der Kirche auf. Und da die Amtstracht ohnehin schwarz ist, scherzte er, sei er nicht nur Trittbrettfahrer, sondern eigentlich auch Schwarzfahrer. Oder eben: Schwarzpfarrer.
Wortspiele wie diese purzelten nur so vom Altar der Kabarettkanzel – Sprachakrobatik als Hochamt. Die „Schriftenordnung“ der Kirchenverwaltung wurde zum kabarettistischen Lehrstück, Theologie zur „Konifere“, die Alsfelder Altstadt zur „hysterischen Altstadt“. Sprichwörter wurden genüsslich verhunzt, Fachbegriffe verhaspelt – und das Publikum bog sich vor Lachen. Doch bei Eurich ist Humor nie Selbstzweck. Hinter jeder Pointe steckt Nachdenklichkeit, hinter jeder Volte eine Beobachtung aus Alltag, Kirche und Dorfleben.
Der dreifache Familienvater sprach über ausbleibende Kirchenbesucher, die nur noch zu Taufe, Trauung oder Beerdigung erscheinen. Er beschrieb, wie Pfarrer als „lästige Folklore“ bei Hochzeiten längst vom Fotografen an den Rand gedrängt werden, und „übersetzte“ ironisch die beliebtesten Hochzeitslieder – von der „Halleluja“-Scheidung bis zum „Macht der Liebe“-Braut-als-Besitz-Klassiker. Selbstverständlich nicht ohne die Frage: „Gab’s dafür wenigstens ein paar Kamele?“
Eurich kann ernst, ohne den Humor zu verlieren – und wird dabei lehrend. Er erteilte eine Lektion in Verwaltungsdeutsch mit Aktennummern von „Bullshit“ bis „Pornografie und Schundliteratur“. Er erklärte die Follower-Kultur im Vergleich zu den zwölf Jüngern. Er garnierte die Gender-Debatte mit einem Lied über „Neumodische Ferz“ und feierte das neutrale „Liebe Geschwister“ als geniale Zeitsparformel. Schließlich wandte er sich dem Klimawandel zu, rechnete Güterzüge voller CO₂ vor – und beruhigte augenzwinkernd: „Atmen dürfen wir weiter.“ Wissenschaft, Satire und Seelsorge in einem Atemzug – das ist seine Kunst.
Zwischen den Redebeiträgen führte er musikalisch den roten Faden weiter: eigene Lieder, mal spitzzüngig, mal herrlich deftig im Vogelsberger Platt („Komm auf’n Punkt“, „Woschta aus Kardoffeln“), dazu Gospel und Rock – stets im Zusammenspiel mit Sohn Konstantin am Schlagzeug und Tochter Antonia an den Reglern. Ein Familienbetrieb, der die Dreifaltigkeitskirche zur Kleinkunstbühne machte. Interaktion inklusive: Wer nach dem Lied über die dürre Braut beim Abendessen die Vogelsberger Leibgerichte erriet, erhielt das Originalrezept von Mama Eurich. Kabarett, Küche, Kirche – bei diesem Pfarrer gibt es alles auf einer Bühne.
Über 90 Minuten lang hielt Eurich diesen roten Faden, mal zart, mal deftig, mal laut, mal leise – und es war klar: Hier predigt keiner mit erhobenem Zeigefinger. Er vereint Humor, Faktenliebe und Nachdenklichkeit. Ein Mann, der die Welt liebt, das Wort beherrscht und die Menschen zum Lachen wie zum Nachdenken bringt. Ein weltoffener, nahbarer Pfarrer mit Trittbrett und Trommelwirbel, der seine Gemeinde – ob auf der Kanzel oder im Kabarett – mitten ins Herz trifft.
Text und Bild: Anja Kierblewski